Wohnhochhaus Koppstraße, München

» … Der Turm ist das Werk eines anderen Jahrhunderts. Ohne Vergangenheit ist er nichts. … Aber die Bücher sind dazu da, unserer Träumerei tausend Wohnungen zu schenken. Wer hat nicht romantische Stunden in den Türmen der Bücher verbracht? Diese Stunden kehren wieder. Die Träumerei braucht sie. Auf der Klaviatur einer groß angelegten Lektüre ist die Berufung, einen Turm zu bewohnen, eine Note, die große Träume auslöst. Wie oft, seit ich L´Antiquaire gelesen habe, bin ich ausgezogen, den Turm Henri Boscos zu bewohnen! …«

— Gaston Bachelard „Poetik des Raumes“ 1987

Der Entwurf nimmt die kontroverse Diskussion um Wohnhochhäuser zum Ausgangspunkt für deren positive Neuinterpretation; während der letzten Generation dieses Bautyps oft das Stigma von Anonymität, Gestaltlosigkeit, bloßer Stapelung von Nutzflächen und Bauwirtschaftsrationalismus anhaftet sucht dieser Entwurf das genaue Gegenteil davon: Individualisierung, hohe Varianz in der Grundrissbildung, signifikante Formgebung und Zeichenhaftigkeit.
Das frei geformte architektonische Objekt setzt sich als Solitär in ein spannungsvolles Verhältnis zur Raum bildenden Randbebauung und entwickelt eine fein modellierte Körperhaftigkeit die mit einer Struktur von eigenständigen Volumen überlagert. Beides erzeugt eine einprägsame Zeichenhaftigkeit und steht für ein hohes Maß an Individualität und Erkennbarkeit des Einzelnen im Gesamten. Über der zweigeschossig ausformulierten Sockelzone treten mit Aluminium bekleidete Erker und Loggien vor die Fassade und umspannen den muralen Grundkörper in Form einer sich nach oben entwickelnden Helix. Dieses Konzept der Geschoss unterdrückenden umlaufenden Helix steigert dabei in Zusammenhang mit den Überhöhungen der Ausrundungen die Vertikalität des Baukörpers. Darüber hinaus bescheren sie den überraschenden Effekt, dass man vor das Haus treten und dessen Höhe und Gestalt erleben kann.
Auf Basis einer aufwändigen Brandschutzsimulation konnten die Fensterbrüstungen abweichend von der Hochhausrichtlinie statt mit 100 cm mit einer Höhe von 40 cm ausgebildet werden und ermöglichen so einen freien Ausblick.

Man betritt dieses Haus über eine großzügige zweigeschossige Halle die mit einer fein texturierten Vliestapete ausgeschlagen, aufwändig beleuchtet ist und so an die Tradition gründerzeitlicher Eingänge anknüpft. Von hier aus erschließen sich die Wohnungen deren Loggien bzw. Erker von Geschoß zu Geschoß um eine Achse rotieren; das ermöglicht eine hohe Varianz der Grundrissbildung und tatsächlich hat das 16 stöckige Hochhaus 10 unterschiedliche Geschossgrundrisse – kaum eine Wohnung gleicht der anderen – und ist mithin des Gegenteil des Prinzips gestapelter Flächen.

Die Baustruktur des Gebäudes ist so definiert, dass unterschiedliche Grundrissbildungen auch noch im Bauprozess möglich waren: Es gibt einen tragenden und aussteifenden Kern, um den die konzentrierte und kompakte Sanitärzone liegt, und eine tragende Fassade, dadurch war es möglich, sämtliche Raumtrennwände nicht tragend und daher flexibel und variabel auszubilden und so eine Antwort auf die Erfordernisse einer Patchwork-Gesellschaft zu geben. Es gibt drei typische Grundrissgruppen (A,B,C) die jeweils unterschiedliche Konfigurationen ermöglichen: die 5-Spänner, 4-Spänner, 3-Spänner und 2-Spänner belegen eindrucksvoll die Leistungsfähigkeit des Konzepts im Hinblick auf einen gewünschten Wohnungsmix.
Der größte Teil der Wohnungen ist nach mindestens zwei Himmelsrichtungen orientiert wobei der Kernbereich der Wohnung – der zusammengefasste Wohn-Essbereich mit dem zugeordneten Freibereich – in einer „Gebäudeecke“ liegt und damit besonders von der zweiseitigen Orientierung und der Raumform profitiert.

Signifikante Gestalt, differenziertes Wohngefüge und Flexibilität über den gesamten Nutzungszyklus gehen bei dem Haus eine glückliche Symbiose ein.

Standort Koppstraße, München
Architekt Hierl Architekten BDA DWB
Bauherr PANDION Real Estate GmbH, München
Wettbewerb, 2009 1. Preis
Landschaftsplanung Wettbewerb grabner + huber, Freising
Geschossfläche 7.700 qm
Baukosten KG 300/400 11.300.000 €
Leistungsphasen 2 – 4, 5 Teilleistungen (HOAI)
Fertigstellung 2013
Mitarbeit Carolin Semtner, Florian Wagner, Ulrich Schall, Miriam Ballesteros, Nina Peña